Der Milchtrinker vom Bahnhof Zoo

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Auch nach einigen Tagen in Südamerika geht mir noch die Exkursion des kulturweit-Vorbereitungsseminars “Obdachlose zeigen ihr Berlin – Obdachlos auf schicken Straßen” durch den Kopf. Der obdachlose Dieter (“Ich bin 50 Jahre jung -und nicht alt”) führte uns durch seinen Kiez, den Stadtteil Charlottenburg.

Er erzählte uns, wie er im Winter 2012 obdachlos wurde, nachdem seine Vermieterin ihn durch Abstellen der Heizung und weitere Schikanen aus der Wohnung gedrängt hatte. Dieter wollte eigentlich von Thüringen aus nach Frankreich laufen, um dort sein neues Leben zu starten. Er lief allerdings in die falsche Richtung und landete in Berlin am Bahnhof Zoo. Dort schloss er sich einer Gruppe von acht Obdachlosen an, um gemeinsam das Leben auf der Straße zu bewältigen – vornehmlich mit Essensbeschaffung und dem Finden eines Schlafplatzes. Einem Mann seiner Gruppe fehlte ein Arm: Seine Armprothese mit einem Reißverschluss nutzte er als “Einkaufstasche”, um Lebensmittel darin mitgehen zu lassen. Ein breiter und großer Kerl war dafür zuständig, die Gruppe zu verteidigen, wenn diese von anderen Obdachlosen beklaut oder angegriffen wurde. Dieter berichtete, dass fast alle in seiner Gruppe alkoholabhängig waren und zwei bis drei Flaschen Schnaps pro Tag killten. Er selbst machte sich dagegen den Namen als “Der Milchtrinker vom Bahnhof Zoo”, da er keinen Alkohol anrührte und bei Milch blieb!

Er betonte außerdem, wie schwer es sei, den öffentlichen Raum für private Zwecke zu nutzen. In Berlin wurden wohl in den letzten Jahren viele Holz- durch Metallbänke ersetzt. Das stelle ein großes Problem für Obdachlose im Winter dar, denn im Schlaf könne die Haut von Gesicht oder Händen über Nacht am Metall festfrieren und dann abreißen. Zudem würden bei Minusgraden einzelne Hautzellen absterben, was meist am großen Zeh beginne. Die abgestorbenen Hautzellen beginnen dann zu faulen und übel zu riechen. Deswegen liege ein unangenehmer Geruch mancher Obdachloser eventuell nicht an mangelnder Hygiene, sondern an abgestorbenen Zellen. Die Behandlung der Hautzellen ist sehr teuer, weswegen sich manche Obdachlose extra oft beim Schwarzfahren erwischen lassen, um dann über den Winter im Gefängnis sein zu können, wo es eine kostenlose medizinische Behandlung gebe. “Der Milchtrinker vom Bahnhof Zoo” berichtete aber auch von netten Menschen, die der Gruppe Lebensmittel schenkten und ihm beim Finden einer Wohnung unter Betreuung halfen.

Am Ende der Kiezführung zog Dieter ein deprimierendes Resumée: Von seiner damals 8-köpfigen Gruppe sind nur noch zwei Personen am Leben: Er und ein Mann, dessen Körper den krassen Alkoholkonsum nicht mehr lange mitmachen würde. Die Meisten waren am Alkoholmissbrauch gestorben. Eine Obdachlose war abhängig von Crystal-Meth und sah mit Mitte 20 wohl schon aus wie eine alte Frau, da die Droge die Haut komplett rissig mache. Ein Anderer war unter mysteriösen Umständen mit aufgeschlagenem Kopf gestorben, was sie damals alle hart getroffen hatte.

Die Exkursion, die kulturweit im Vorbereitungsseminar für unseren Auslandsaufenthalt angeboten hatte, war ein interessanter Ausflug, der uns allen noch einmal bewusst machte, wie hart das Leben auf der Straße ist. Dieter gab uns diese Anregung mit auf den Weg: Man solle Obdachlosen wenigstens Beachtung schenken. Denn oftmals tendiere man dazu, Obdachlose, die nach Geld fragen, wie Luft zu behandeln. Doch sie sind immer noch Menschen, denen man menschenwürdig gegenübertreten sollte.